Einordnung der Predigt
Seit August 1954 hält Karl Barth im „Schällemelli“, der Basler Strafanstalt, Gottesdienste. 1968 blickte der Gefängnisseelsorger Martin Schwarz (1905-1990) auf Barths Gefängnispredigten zurück und bemerkte, dass sie ein geteiltes Echo hervorgerufen hätten, das zwischen Befremden einerseits und Freude andererseits geschwankt habe. Auf die ihm häufig gestellte Rückfrage, ob die Gefangenen Barth dankbar gewesen seien, antwortete Schwarz 1959:
„Wie sehr gerade die der Kirche Entfremdeten durch diese Predigten vom Evangelium selber sich angeredet und in ihrer Schuld und Not verstanden, getröstet und gestärkt wußten und die Gebete als ihre eigenen mitbeteten, ist auf mancherlei, oft ganz unscheinbare und hier nicht zu beschreibende Weise deutlich geworden. Das hat sich nicht nur in offensichtlicher Dankbarkeit und Liebe Karl Barth gegenüber gezeigt, sondern nun doch gemeindegemäß im Beisammensein unter dem Wort und in der fröhlichen Teilnahme am Abendmahl, wie es im Anschluß [sic!] an die Mehrzahl der hier vorgelegten Predigten gehalten wurde.“
Das Zitat belegt, dass Karl Barth die Sprache der Insassen sprach, was Schwarz bestätigt, wenn er Barths Predigten folgende Adjektive beilegt: „nüchtern“, „einfach“, „klar“ und „fröhlich“. Barths Freund betont, dass dessen Theologie von ihren Anfängen her auf Verkündigung gezielt und er im Gefängnis „kritische“ und „wache Hörer“ vor sich gehabt habe, die schnell heraus(gehört) hätten, ob eine Predigt aufgesetzt oder ehrlich gewesen sei. Schwarz unterstreicht folglich den Gedanken, dass Barths Predigten im besten Sinne des Wortes evangelisch gewesen seien, seien sie doch als „wirklichkeitsnah“, „mutmachend“ und „befreiend“ erfahren worden. Auch habe Barth die Strafgefangenen in ihren Zellen besucht, sich ihre Lebensgeschichten angehört und deren, wie Barth in einem Brief an Schwarz schreibt, „plastisches“ Erzählen geschätzt.
Predigtgespräch
1. Zum Bibeltext
Barth beschränkte sich seit Beginn seiner Predigttätigkeit in der Strafanstalt auf einen einzigen Bibelvers. Mittels klarer, einfacher Sprache nimmt er die ausschließlich männlichen Hörer an die Hand, um ihnen einen zentralen Gedanken bündig auszulegen. Für den 4. Advent 1962 hat er sich für Lk 1,53, ein Vers aus dem Magnifikat, entschieden. Er übersetzt: „Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Das Magnifikat ist auch am 4. Advent 2025 Perikopentext. Darüber hinaus ist es Evangelium sowie als neutestamentliches Canticum neben Ps 102 Psalm des Tages. Barth wusste gut Bescheid um die überragende Wertschätzung des marianischen Hymnus’ in der Kirche.
Die Predigt ist exemplarisch für Barths homiletische Grundeinsicht in die Predigtvorbereitung: Bibel und Zeitung sind zusammenzulesen. In kritischer, provokativer Absicht paraphrasiert die Adventspredigt zu Beginn einen Artikel aus der Basler Zeitung „Wir Brückenbauer“, um dessen Kernaussage im Laufe der Predigt vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dabei bedient Barth sich einer dialektischen Argumentation, die dem anspielungsreichen sowie wirkmächtigen Hymnus selbst abgelauscht und auf einen Punkt begrenzt ist: auf das Verhältnis von „arm“ und „reich“. Die Begriffe sind für Barth fließend.
Homiletisch anregend empfinde ich die Beschränkung der Predigt auf einen einzigen Vers, den symmetrisch und parallel strukturierten Vers 53, der zu dialektischen Überlegungen einlädt. Damit gewinnt die Predigt an inhaltlicher Tiefenschärfe und Genauigkeit und die Hörenden werden nicht mit einer Exegese überfordert, die das ganze Magnifikat behandeln will. Den meisten dürfte nach der Einführung in die Predigt zudem jeder Lobpreis im Halse stecken geblieben sein, denn der Zeitungsartikel bestätigt in der Meinung, dass Straffällige dem Evangelium von vornherein fremd sind. Barth nimmt einen Perspektivwechsel vor: Selbst wenn Strafgefangene nichts mit Gott zu tun haben: Gott hat sehr wohl mit den Strafgefangenen zu tun. Jesus Christus hat kurz vor seinem Tod nicht grundlos zwei Verbrecher um sich gehabt.
Obwohl das Magnifikat eine Lobrede ist, hält Barth keinen Lobpreisgottesdienst. Seine Gebete favorisieren Bitte und Klage und das ist situativ angemessen. Gefangene brauchen Aufrichtung. Die Predigt bietet dazu verschiedene Angebote. Barth ist schonungslos ehrlich und illustriert, dass Reichtum (finanziell) Armut erzeugen kann (existentiell). Güter sind geliehen – selbst das Leben. Das gilt für straffällig gewordene Menschen und unbescholtene Bürger gleich. Gottes Liebe ist streitbare Liebe: Alle Menschen sind Gott gleich nah („reich“) und gleich fern („arm“). Gott will Zu- und Einstimmung in sein Wort, darum ist das Gebet nach Barth vornehmlich Bittgebet.
2. Zur Lebenswirklichkeit der Zuhörenden
Barth besuchte im „Schällemätteli“ Langzeitgefangene. Er hatte es nicht mit Kleinkriminellen zu tun, sondern mit Menschen, die wenig bis keine (Bewegungs-)Freiheit hatten. Im Gefängnis gilt: Leben ungeschminkt. Barth nähert sich dieser Wirklichkeit sprachlich an. Er berücksichtigt die spezifische Situation der Hörer, da er weiß, dass er es hier mit Ausgegrenzten und Isolierten, mit Stigmatisierten und Marginalisierten zu tun hat, denen er das Evangelium geradezu schuldig ist. Er legt seine Hörer aber nicht auf ihre Realität, ihre Schuld oder irgendwelche Defizite fest. Er nimmt die Hörer ernst, aber er will sie nicht ernster nehmen, als sie sich selbst oder andere sie nehmen. Vielmehr ist Barth darauf aus, seine Hörer in Bewegung zu versetzen, zum Fragen anzuregen, um Lebenshilfe und Orientierung in großer Unfreiheit anzubieten.
Die Strafgefangenen erwarteten von Barth, was jeder Mensch erwarten kann: Wahrhaftigkeit. Dass Mensch und Mensch einander wahrhaftig begegnen, liegt in diesem Fall jedoch nicht im Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit begründet, sondern in der Wahrheit des Evangeliums selbst, das Barth zufolge Hörer*innen besser kennt, als sie sich selbst kennen.
Besonders inspirierend, weil persönlich berührend, empfand ich Barths Gebete, die der Predigt voran- und nachgestellt sind, weil sie anschaulich auf die Bedürftigkeit der Menschen vor Gott hinweisen und er sich auf diese Weise seinen Zuhörern (an)nähert.
3. Zur Gottesdienstsituation
Barth wählt für die Gefängnisgottesdienste eine schmale Liturgie. Tradiert sind im Schnitt zwei Lieder, wenigstens zwei Gebete (samt Unservater) und (fast) immer eine gemeinsame Feier des Abendmahls. Die Gefangenen schätzten besonders die Mahlgemeinschaft und Barths Gebete, denn sie geben ihnen Zuversicht in ihrer Lebenssituation.
4. Zur predigenden Person
1962 ist Karl Barth ein alter Mann. Die Gefängnispredigten fallen in seine letzte Lebensphase. Dass seine Wahl auf die Gefängnisgemeinde fällt und nicht, wie zu vermuten gewesen wäre, auf die Münstergemeinde Basels, lässt aufhorchen. Er irritiert seine Zeitgenossen bewusst, denn er will einem jeden verbürgerlichten Christentum mit seinen Gefängnispredigten einen Spiegel vorhalten. In diesem Spiegel mögen sich für Barth alle als begnadigte Sünder wiedererkennen. Eine ZuMUTung.
Er unterschätzt seine Hörer nicht. Er redet ihren Zustand nicht schön, aber bekennt, dass er das Evangelium als fröhliche Befreiung von allen Banden versteht. Er trennt, das ist unbedingt zu beachten, die Person nicht von ihren Werken, lässt diese aber auch nicht in jenen aufgehen.
Straffällig gewordene Menschen sind für Barth keine Monster, ihre Taten aber auch keine Kavaliersdelikte. Wenn es einen Ort gibt, an dem das Evangelium der Menschenfreundlichkeit Gottes verkündigt werden muss, dann ist es für Karl Barth eindeutig ein Gefängnis.
Barths Gefängnispredigten sind mehrheitlich Homilien, nur selten Themapredigten. Was mich ebenfalls inspiriert hat, ist die Einfühlsamkeit der Predigt. Sie ist existentiell und argumentiert inklusiv. Sie ist für mich sanft, hoffnungsvoll und dialogisch. Barths Kontaktfreudigkeit ist der Gefängnisgemeinde nicht verborgen geblieben. Einige Strafgefangene haben ihm während und nach ihrer Haft Briefe geschrieben.
Sprachlich nutzt der Prediger Parataxen (Satzreihen) und Neologismen (Wortneuschöpfungen), die eine große Kraft an Einprägsamkeit besitzen. Die Rede von den „armen Reichen“ dürften viele auch im Nachhinein erinnert haben. Barth traut den Gefangenen (Einzelhaft) zu, das Evangelium in ihrem beengten Kontext betend sowie singend aufzunehmen. Auf die Weise macht er sich zwar angreifbar, aber auch greifbar: Menschen, die andere Menschen versehrt haben, indem sie ihnen Gewalt antaten, schätzen ein streitbares Gegenüber. Einem Weltbild der Gewalt setzt Barth das Evangelium als Gegenbild gegenüber.
Als irritierend empfand ich die Dialektik, die diese Argumentation prägt und trägt. Barth gelingt es, keines der beschriebenen Phänomene zu vereindeutigen und Menschen auf „arm“ und „reich“ festzulegen. Das wäre ihm moralisch zu billig. Ein Denken in Schubladen greift zu kurz. Barths Balanceakt ist ein homiletisches Kunststück und dem christozentrischen Ansatz seiner Theologie geschuldet: Er denkt zwar von der Lebenswirklichkeit der Hörer her, bleibt aber nicht dabei stehen oder verliert sich gar darin.
Barth macht Gesprächsangebote, ohne zu vereinnahmen. Durch Arme und Reiche geht ein Riss, der Arme reich und Reiche arm macht. Sich selbst als armen Reichen oder reichen Armen von Gott her ansehen, bewirkt für Barth allein Gott. Straffällig gewordene Menschen dürfen erlernen, sich so anzunehmen, wie Gott sie sieht. Sie sind nicht der Sonderfall, sondern der Regelfall im Evangelium, denn so, wie Gefangene Befreiung brauchen, brauchen Kranke einen Arzt.
Da Gott in sich selbst ein armer Reicher ist, lädt Barth die Zuhörer ein, sich Gott anzuschließen. Die Predigt folgt einem dramatischen Aufbau und verbindet gekonnt Erklärung (explicatio) und Anwendung (applicatio). Sie lässt die Hörer nicht ausruhen, sondern bewegt sie. Barths Predigt lädt ein, sich in Bewegung setzen zu lassen vom menschenfreundlichen Gott, der uns sieht, wie wir dran sind und der weiß, was er mit uns machen möchte.
Stellt sich noch eine letzte Frage: Welche Aspekte der Predigt mache ich mir zunutze, wo aber beschreite ich andere, eigene Wege als Barth?
Barth versteht sich als Prediger, der seinen Hörer*innen Zeitgenosse sein will. Er plädiert für Klarheit und Verbindlichkeit, ohne seinen Standpunkt absolut zu setzen. Die Bildlichkeit seiner Predigt bewahrt vor vorschnellen Zuschreibungen. Ein moralischer Zeigefinder unterbleibt. Barth warnt die Hörer*innen vor Selbstsicherheit und Selbstviktimisierung. Die eindrückliche Schilderung der weltweiten Hungersnot ermutigt dazu, christliche Existenz als diakonische Existenz zu leben. Die Härten dieser Welt sind es wert, angezeigt zu werden. Seine Predigt ist einladend, weil und indem sie sich auf Wirklichkeit einlässt, statt sich ihrer zu entziehen. Das Fürbittengebet ist ein gutes Beispiel dafür, scheinbar Arme zur Selbstachtung zu ermutigen und scheinbar Reiche zur Bescheidenheit einzuladen.
Verantwortungsträger stehen Barth zufolge in besonderer Gefahr, Verantwortung entweder auf andere abzuladen (z.B. Journalist*innen) oder sich alleine aufzuladen (etwa Ärzte). Gerade die Kirche ist nach Barth nicht derart verantwortungsvoll, wie ihre Vertreter dies gerne suggerieren. Seine meinungsstarke und herausfordernde Predigt ist für mich vorbildlich. Ich kann und will sie aber nicht nachahmen. Daher fokussiere ich einen anderen Vers des Magnifikat, der aus meiner Sicht und für die Gemeinde, in der ich für gewöhnlich predige, gegenwartsbezogen(er) ist.
Dabei erfordert auch meine Predigt eine gewisse Meinungsstärke. Mir geht es um Lk 1,54. Der Vers rekurriert, obwohl er auf den ersten Blick weniger dialektisch scheint, auf einen Namen, an dem nicht wenige Zeitgenossen irre zu werden scheinen: Israel. Es geht mir um das Erinnern (Zachor!) Israels aus der Sicht des Gottes des Bundes, aus der Sicht Marias, der Mutter Jesu, aus alttestamentlicher Sicht und aus meiner Sicht. Ich möchte nicht vergessen! Darum frage ich: Wer oder was Israel ist?
In Barths Theologie und Homiletik ist Israel wiederholt ein Rätsel: Während er 1948 einerseits den Staat Israel als Affront gegen die Worte der Propheten auffasst, würdigt er Israel 1949 als einzigen Gottesbeweis, was er 1938 schon einmal behauptet hat. Widersprüchlicher können die Aussagen kaum sein, oder? Ich würde sogar behaupten, dass Israel eine der größten Leerstellen in Barths Leben und Werk geblieben ist. Das hat unterschiedliche Gründe, die hier nicht erörtert werden brauchen.
Mir ist die Erinnerung an das Israel Gottes beim Fest der Ankunft Jesu Christi wichtig. Als Prädikant der EKiR ist mir der „Synodalbeschluss“ (1980) gut bekannt. Dass auch Israel eine gewisse Dialektik innewohnt, die „bildlich“ erschlossen werden muss, ist mir bewusst und ich werde darum in freierer Anlehnung an Barth eine Predigt über Marias Lob des befreienden Erinnerungsreichtums Gottes und Israels halten.
Verwendete Literatur
Barth, Karl, GA, Bd. 57. Gespräche 1948-1952, hg. v. Michael Pfenninger, Zürich 2025, 55-57
Barth, Karl, GA, Bd. 12. Predigten 1954-1967, hg. v. Hinrich Stoevesandt, Zürich 2003, II-IV
Barth, Karl, Die Judenfrage und ihre christliche Beantwortung, in: ders., Der Götze wackelt, hg. v. Karl Kupisch, Berlin 1961, 144-149
Schwarz, Martin, Karl Barth in der Strafanstalt. Bericht des evangelischen Strafanstaltspfarrers, 4-10 (diesen Bericht 1968, auf den auch Eberhard Busch in seiner Barth-Biographie rekurriert, hat mir dankenswerterweise Peter Zocher vom Karl Barth-Archiv in Basel zukommen lassen)