4. Advent – Predigt

Erinnern wir uns?! Predigt zu Lk 1,54

Eingangsgebet

Gütiger Vater, wir loben Dich, denn Du hast uns in Deiner Erinnerung aufbewahrt. Wir danken dir, dass wir als freie Menschen in Zutrauen und Erwartung vor dir leben.

Lieber Sohn, wir klagen dir, dass wir dich und uns in unserem Leben mal um mal vergessen haben und bekennen, dass wir Dir gegenüber und untereinander gedankenlos in Wort und Tat waren. Hilf uns auf aus unserer Ignoranz.

Lebendige Geistkraft, wir bitten Dich, erinnere uns an Deine unverbrüchliche Treue. Wir bitten dich, lass uns lernen, uns anzunehmen, wie wir sind, sodass Du uns veränderst in dein Ebenbild.

Wir erflehen all das im Namen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Liebe Gemeinde,

am heutigen 4. Advent bekennen wir mit Israel den Gott, der uns aufhilft, indem ER uns an sich und uns an uns erinnert.

I

Da war doch was… Was war es noch? Denk nach! Ich weiß es wieder. Mein Schlüsselbund. Er liegt noch in meiner Sporttasche. Dort hatte ich ihn zuletzt noch. Oder? Ich schau mal nach. Ja, da ist er. Alles gut! Mensch, dass dir das aber auch immer wieder passiert.

Kennen Sie solche Situationen? Sie erinnern sich nicht oder nur sehr langsam, wo Sie das, was Sie vergessen haben, suchen müssen. Wer sich erinnert, geht auf die Suche und macht sich auf den Weg. Es ist möglich, dass unsere Erinnerung uns einen Streich spielt oder wir suchen etwas, das nicht zu finden ist. Vergessen zeigt immer einen Verlust an. Das kann schmerzen. Etwas ist nicht (mehr) da, obwohl wir es brauchen. Ein Schlüsselbund ist ein harmloses Beispiel!

Frau Schneider erinnert sich nicht mehr an den Namen des netten Herrn, der sie gerade besucht. Sie überlegt: Wie hieß er noch gleich? War er nicht neulich schon mal da? Sie ist unsicher und grübelt. Das quält. Da fragt sie freimütig, wer er sei. Der Mann ist um Fassung bemüht und sagt nach kurzem Zögern: „Ich bin es, Greta, dein Jürgen.“ Gerta und Jürgen sind seit 50 Jahren verheiratet.

Auch das gibt es. Ist in Deutschland keine Seltenheit. Vielleicht kennen Sie das. Da bleibt einem die Spucke weg. Gegenstände vergessen – ist das eine. Demenz ist etwas völlig anderes: Lücken und Aussetzer nehmen zu. Wo Menschen früher durch dick und dünn gingen, erkennen sie einander nun nicht wieder. Auch Jürgen Greta nicht! Die Namen habe ich erfunden.

Das ist ein krasses Beispiel! Daher tut ein Perspektivwechsel gut, wenn es um das Erinnern und seine Schattenseiten geht. Eine Seite ist Verlust, die andere ist Leere. Am heutigen 4. Advent möchte ich einer Erinnerungspur folgen, die dem Verlust einen Gewinn und der Leere eine Fülle entgegensetzt. In Lk 1,54 lädt Maria zum Perspektivwechsel ein – Erinnern und Vergessen erscheinen in neuem Licht.

II

Maria singt! Sie singt: „Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, damit er sich an sein Erbarmen erinnere.“ Der Vers spricht vom Erinnern: Den Vortritt erhält Gott – Maria gedenkt seiner, weil Israels Retter ihr Leben füllt. Sie erfährt Gottes Rettung am eigenen Leib. Wie aber erfährt sie diese Rettung konkret? Und welche Hilfe widerfährt ihr dabei?

Maria versteht sich vom Gott Israels her, der mit Israel einen Bund geschlossen hat; auch Marias ungeborener Sohn ist in diesen Bund aufgenommen. Wen der Gott Israels in seinen Bund aufnimmt, den oder die nimmt er an, wie er oder sie ist. Er sieht Maria, wie kein anderer Maria sieht, denn ER kennt sie, wie kein anderer sie kennt. Er kennt sie in ihrer Tiefe. Nach dem Gespräch mit Elisabeth und bevor sie ihren Lobgesang anstimmt, könnten ihr folgende Erinnerungssplitter (Gedanken, Gefühle, Wünsche, Ängste) durch den Kopf gegangen sein:

„Ich bin mit meiner unerwarteten Schwangerschaft nicht alleine. Meine Cousine steht mir bei, sie wollte, dass ich sie besuche. Zu zweit ist man eben weniger einsam! Ja, vielleicht stelle ich unzeitgemäße Betrachtungen an, aber ich begreife meine jetzige Lage nicht: Gott, wieso ich? Wieso hast du mich erwählt? Außer meinem Verlobten schauten mir die Jungs nicht hinterher. Ich habe keinen adligen Rang, keine soziale Stellung und obendrein einen Namen, den so viele Frauen meines Alters haben. Warum wird mir diese Würde zuteil? Oder sollte ich lieber sagen, diese Last? Freundinnen haben mir erzählt, dass sie sich oft übergeben mussten und ihre Gatten ihnen nicht aufgeholfen haben, wenn sie am Boden knieten und sich auskotzten. Ich bin, ehrlich gesagt, verwirrt! Ich habe die Sorge, von Altersgenossen verspottet und ausgegrenzt, vielleicht sogar stigmatisiert zu werden. ‚Seht euch die mit ihrem dicken Bauch an! Wo ist eigentlich ihr Ehemann? Die kann sich doch so nirgends mehr blicken lassen. Is doch wahr!‘ Ja, so werden sie reden, Gott. Wieso hast du mir das angetan? Elisabeth sucht mich zu beruhigen. ‚Kind, keine Angst. Gott hat Großes mit dir vor. Er hat sich deiner erbarmt, wie er sich zuvor nie einer Jüdin, ja, einer Jüdin, erbarmt hat.‘ Ich kann es nicht glauben. Ich möchte wohl, aber es fällt so schwer. Was sieht er in mir Besonders? Oder bin gar nicht ich es, die er als besonders ansieht, sondern, wie mir der Engel erzählte, der, der in mir heranwächst? Vielleicht geht es gar nicht um mich. Vielleicht brauche nicht ich Ausgrenzung und Spott zu fürchten, sondern mein Sohn; was, wenn seine Besonderheit (als Immanuel) ihm einmal zum Verhängnis wird und er leiden muss? Ach, ich weiß es doch auch nicht. Hilf mir, Gott! Hilf mir auf da, wo ich jetzt bin. Hilf mir, deinem Namen keine Schande zu machen und darauf zu vertrauen, dass aus meinem Sohn ein echter, wahrer Immanuel wird. Hilf, dass dein Volk Israel Rettung erfährt. Gerade Israel braucht einen Helfer. Willst du denn nicht kommen und deinem Volk, dessen du ewig gedenkst, aufhelfen?“

Soweit Marias Erinnerungssplitter kurz vor ihrem Lobgesang. Bleibt zu fragen: Woran erinnert Maria, wenn sie an Israel erinnert? Lk 1,54 spricht meines Erachtens bewusst von Israel. Wer aber ist Israel? Über die Frage, wer Israel ist, ist viel Zank und Uneinigkeit. Gerade unter Christen. Billig wäre es, diese Frage wegzuschieben. Ich möchte mich ihr stellen und auf der Erinnerungsspur Marias bleiben, die des Bundes zwischen Gott und Israel gedenkt.

III

Unsere Rheinische Kirche hat sich vor 45 Jahren neu an Israel erinnert. Und aus ihrem Erinnern ein Bekennen abgeleitet zu zwei wichtigen Dingen, die im Christentum völlig in Vergessenheit geraten waren: Israel ist von Gott bleibend erwählt. Und: Die Kirche ist zu Israel hinzugetreten, nicht umgekehrt. Das sind Glaubenssätze! Als Glaubenssätze wollen wir sie neu hören – Gottes Erwählung und unser Hinzukommen kann nur geglaubt werden. Und so frage ich noch einmal: Wer ist Israel?

Jakob, der Sohn Isaaks, der Enkel Abrahams, wird nach einer Begegnung mit einem Engel Gottes „Israel“ genannt. Der Name heißt: „Gott kämpft“. Jakob-Israel gilt fortan als Gottesstreiter, also als einer, der mit Gott streitet und mit dem Gott streitet. Sie sind Verbündete. Israel ist erstens ein Mensch, der von Gott verändert wird und sich verändern lässt. Israel ist eine Neuschöpfung.

Jakobs Söhne, von den Ägyptern „Hebräer“ genannt, vermehren sich in der Fremde. Zum Dank für diesen Bevölkerungszuwachs versklaven die Pharaonen sie – in Erinnerung an den Gotteskämpfer tritt der „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ auf, diesmal als Krieger. Mose, sein einziger Freund, hilft bei der Befreiung der Sklaven. An Pessach erinnern Jüdinnen und Juden daran. Für Maria ist Pessach ein „Identitätsmarker“. Sprich: Nur von dort her will sie sich verstehen und verstanden wissen. So ist Israel ein Kind der Befreiung. Friedrich-Wilhelm Marquardt hat das Magnifikat einen „Befreiungsgesang“ genannt.

Zum Gottesstreiter und Befreiungskind treten zehn Stämme. Sie siedeln im Norden Kanaans und werden unter David mit dem Süden zu einem Reich, Israel-Juda, vereint. Dieses Reich erleidet eine wechselvolle Geschichte. Es wird zerstört und wiederaufgebaut. Höhepunkte ihrer Leidensgeschichte markieren Jüdinnen und Juden 587 v.C. mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Babylonier und 70 n.C. mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer. Israels Leidensgeschichte hält an, wir müssen nur den Fernseher einschalten. Doch es gibt auch Hoffnungsgeschichten – innerhalb Israels, wie das Dorf Nes Ammim – sowie außerhalb Israels, wie die Unterstützung der Familien der Geiseln durch Jüdinnen und Juden weltweit. Israel hat aber nicht nur die Gestalt eines leidenden Knechtes. Marias Immanuel.

Israel sind schließlich einfach Jüdinnen und Juden, die eine doppelte Identität haben, nämlich abstammungsmäßig (Mutter) und religiös (Vater). Eine Religion kann man wechseln, aber Judensein ist unverlierbar und damit: unvergesslich. Das weiß Maria, die bald eine jüdische Mutter sein wird: die Mutter Jesu. Sie weiß noch nicht, was sie schon singt, wenn sie lobpreist: „Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, damit er sich an sein Erbarmen erinnere.“ Nach Ostern wird sie sich neu erinnern, dass Gott sich „ganz Israel“ (Röm 11,36) erbarmt hat. Israel? Ein kämpferisches Volk der Befreiung, das seine Identität in sich außer sich erinnert in der Geschichte des Gottes, der in Jesus Christus, in unsere Tiefen gekommen ist.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahrt eure Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.


Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas, EKK III/1, Neukirchen-Vluyn 1989, 81

Marquardt, Friedrich-Wilhlem, Lasset uns mit Jesus ziehen. Dahlemer Predigten und Texte über die Wege Jesu (1956-2002), hg. v. Michael Weinrich, Berlin 2006, 3